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Für die Schüler*innen zweier sechster Klassen, der EF und der Q1 sowie für die teilnehmenden Kolleg*innen war die Begegnung mit Tamar Dreifuss am Freitag, den 21.4.23 eine ganz besondere.

Viele, wahrscheinlich die meisten von uns lernten zum ersten Mal eine Zeitzeugin der Shoa persönlich kennen und erfuhren unmittelbar durch eine Überlebende von der Verfolgung der Juden und Jüdinnen durch den Nationalsozialismus.

Neugier und gespanntes Interesse waren im Publikum spürbar, als Tamar Dreifuss das Wort ergriff. Ihr Überleben verdanke sie allein ihrer verstorbenen Mutter, Jetta Schapiro-Rosenzweig, der sie deshalb vor jedem ihrer Vorträge als Zeitzeugin mit dem Lied "Ich danke dir" von Daliah Lavi gedenke. Die bewegenden Worte des Songs bekamen vor dem Hintergrund des persönlichen Schicksals unseres Gastes eine besondere Bedeutung und erzeugten eine Atmosphäre großer Aufmerksamkeit, mit der wir der Erzählung von Frau Dreifuss dann folgten.

1938 wurde sie als Tamar Schapiro im damals zu Polen gehörigen Wilna (Vilnius), dem sogenannten Jerusalem des Ostens, geboren. Als die Familie 1940 ihre Wohnung räumen musste, zog sie nach Ponar (Ponary), jener nahegelegenen Kleinstadt, in der nach der Besetzung durch die deutschen Truppen 1941 bis Ende 1943 über 100.000 Menschen von der SS ermordet wurden, darunter auch Tamars Großeltern.

Während Jascha und Jetta Schapiro ins Ghetto nach Wilna kamen, konnte ihre kleine Tochter für einige Zeit bei einer Großtante, die bei Katholik*innen aufgewachsen war, unter dem Namen Theresa versteckt werden. Als diese Tarnung jedoch aufflog, kam auch sie ins Ghetto und erlebte als fünfjähriges Mädchen die Deportation ihres Vaters, der kurz vor Kriegsende im KZ Stutthof bei Danzig ermordet wurde. Tamar und ihre Mutter wurden ins Übergangslager Tauroggen (Taurage) deportiert.

Schon während der Fahrt hatte die Mutter zwei Fluchtversuche unternommen und war dafür brutal bestraft worden. Mit sehr viel Mut gelang ihr dann tatsächlich in einem günstigen Augenblick zusammen mit ihrer Tochter die Flucht aus dem Lager und beide tauchten auf Bauernhöfen in der Umgebung unter. Eine Hundehütte wurde schließlich zum Versteck auf dem letzten Hof. Nachdem die Rote Armee am 13.7.1944 den Ort besetzt hatte, konnten Mutter und Tochter nach Wilna zurückkehren und kamen von dort, zusammen mit einer Tante und einem Cousin, in ein Lager für Displaced Persons nach Landsberg am Lech.

Ab 1948 lebte Frau Dreifuss in Israel und arbeitete später als Pädagogin. 1959 ließ sie sich auf Wunsch ihres Mannes, der in Deutschland studieren wollte, im Rheinland nieder und war lange Jahre in der Kölner Synagogengemeinde aktiv.

Am Ende des Vortrags von Frau Dreifuss ergaben sich viele Fragen zu ihrem Leben und zu ihrer Motivation für ihr Engagement als Zeitzeugin. Sie wolle auch eine Geschichte des Überlebens erzählen und habe die Erfahrung gemacht, dass Kinder und Jugendliche diese Geschichte interessiere. Sie wünsche sich, dass der Ermordeten erinnert werde, das Unrecht des Nationalsozialismus im Bewusstsein bleibe und appellierte an die Schüler*innen, über das Thema zu sprechen und sich für Toleranz und gegen Antisemitismus in ihrem Umfeld einzusetzen.

Dafür ist sie seit vielen Jahren aktiv und erzählt in Schulen ihre Geschichte. Die zunächst auf Jiddisch erschienene Autobiographie ihrer Mutter "Auch in Ponar sind wir gewesen" übersetzte sie 2001 unter dem Titel "Sag niemals, das ist dein letzter Weg" aus dem Hebräischen ins Deutsche. Die Massenmorde von Ponar seien in Deutschland kaum im Bewusstsein, weshalb sie den Titel des Originals verändert habe. Ihr eigenes Buch "Die wundersame Rettung der kleinen Tamar 1944" erschien 2009 in Zusammenarbeit mit dem Lern- und Gedenkort Jawne / Köln und richtet sich explizit an jüngere Kinder. Beide Bücher finden sich in unserer Schulbibliothek.

Am Ende des Gesprächs überraschte Frau Dreifuss uns mit der Aufforderung, gemeinsam das Lied "Hevenu shalom alechem / Wir wollen Frieden für alle" zu singen – ein wunderbarer Abschluss für eine Begegnung, die uns alle sehr beeindruckt und bewegt hat.

Für ihren Beitrag zur Erinnerungskultur ist Tamar Dreifuss mit dem Bundesverdienstkreuz und dem Gisbert-Lewin-Preis der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit ausgezeichnet worden. Anlässlich des Holocaust-Gedenktages 2022 hat sie im Landtag NRW gesprochen.

Wir bedanken uns sehr herzlich bei Frau Dreifuss für ihren Besuch.


Für die Fachschaften Geschichte und Religion:
A. Scholz, D. Stahl und B. Weßler